Kein Annahmeverzugslohn bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit – das BAG-Urteil erklärt den Vorrang von § 615 BGB, § 616 BGB und § 3 EFZG

Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt: Wird ein Arbeitnehmer krank, während der Arbeitgeber im Annahmeverzug ist, entsteht kein Anspruch auf Annahmeverzugslohn. Warum § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB im Arbeitsverhältnis vom spezielleren § 615 BGB, § 616 BGB und § 3 EFZG verdrängt wird, erläutert dieser Beitrag.

ARBEITSRECHT

Rechtsanwalt Juri Klein, LL.M.

7/22/20252 min lesen

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1. Das Urteil in Kürze

Am 4 Dezember 2024 entschied der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG 5 AZR 276/23):
Wird ein Arbeitnehmer während des Annahmeverzugs arbeitsunfähig, ist § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB nicht anwendbar. Spezialnormen des Dienst- und Arbeitsrechts (§ 615 BGB, § 616 BGB sowie § 3 EFZG) regeln abschließend, wie mit Vergütungsansprüchen bei Krankheit umzugehen ist. Ein zusätzlicher Annahmeverzugslohn entfällt.

2. Sachverhalt

  • Kläger: seit 2009 bei einer nordrhein-westfälischen Großstadt angestellt, ursprünglich Referent des Oberbürgermeisters.

  • Konflikte führten zu mehrfachen Versetzungen; Vertragsgerechtigkeit der Tätigkeiten war streitig.

  • Arbeitgeber kündigte am 31.5.2019 außerordentlich und am 12.6.2019 ordentlich – beide Kündigungen später für unwirksam erklärt.

  • Arbeitnehmer war vom 29.4.2019 bis mindestens 31.5.2020 durchgehend arbeitsunfähig.

  • Er verlangte Vergütung für 1.6.2019 – 31.5.2020 und berief sich auf Annahmeverzug ab 11.4.2019.

  • ArbG Aachen und LAG Köln wiesen die Klage ab; das BAG bestätigte deren Entscheidung.

3. Rechtliche Kernaussagen des BAG

  1. Synallagma bleibt Grundsatz
    Arbeitsleistung und Vergütung stehen im Gegenseitigkeitsverhältnis: Ohne Leistung kein Lohn (§ 275 Abs. 1, § 326 Abs. 1 S. 1 BGB).

  2. § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB wird durch Spezialnormen verdrängt

    • § 615 BGB regelt Annahmeverzug bei Dienstverträgen als lex specialis.

    • § 616 BGB sowie im Arbeitsrecht noch konkreter § 3 EFZG schaffen eine abschließende Sonderregel für Arbeitsunfähigkeit.

    • Diese Normen begrenzen die Vergütungspflicht zeitlich (z. B. sechs Wochen Entgeltfortzahlung nach EFZG) und schließen einen weitergehenden Lohnanspruch aus.

  3. Kein Annahmeverzugslohn bei Krankheit
    Tritt Arbeitsunfähigkeit während des Annahmeverzugs ein, greifen ausschließlich die Entgeltfortzahlungs- und Kurzzeitverhinderungsregelungen; § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB findet keine Anwendung.

4. Praktische Konsequenzen

Für Arbeitgeber

  • Risikoverlagerung begrenzt: Das Vergütungsrisiko endet nach den speziellen Krankheitsregelungen, nicht nach dem allgemeinen Schuldrecht.

  • Dokumentation wichtig: Arbeitsangebote, Ablehnungen und ärztliche Bescheinigungen lückenlos festhalten.

Für Arbeitnehmer

  • Entgeltfortzahlung bleibt: Bis zu sechs Wochen Lohnfortzahlung nach § 3 EFZG.

  • Kein doppelter Anspruch: Annahmeverzugslohn zusätzlich zur Entgeltfortzahlung ist ausgeschlossen.

Für Vertrags- und HR-Praxis

  • Arbeitsverträge prüfen: Verweise auf EFZG und die Dauer der Entgeltfortzahlung klar regeln.

  • HR-Systeme anpassen: Prozessketten für Annahme-Verzugsfälle und Krankmeldungen verzahnen.

  • Compliance-Schulung: Führungskräfte müssen wissen, dass Krankheit während Annahmeverzug keine zusätzliche Lohnpflicht auslöst.

5. Warum das Urteil wichtig ist

  • Rechtsklarheit: Erstmals stellt das BAG ausdrücklich fest, dass § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB im Arbeitsverhältnis keine Rolle spielt, wenn Arbeitsunfähigkeit eintritt.

  • Planungssicherheit: Unternehmen können Annahmeverzugsrisiken besser kalkulieren; Arbeitnehmer kennen die Reichweite ihrer Ansprüche.

  • Harmonisierung: Das Urteil ordnet sich nahtlos in die bisherige BAG-Linie ein, konsequent auf das Prinzip „lex specialis derogat legi generali“ gestützt.

6. Fazit

Das Urteil 5 AZR 276/23 macht deutlich: Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit während Annahmeverzug führt nicht zu doppelten Vergütungsansprüchen. Für alle Beteiligten gilt daher, Entgeltfortzahlungs-, Annahmeverzugs- und Dokumentationsprozesse konsequent voneinander abzugrenzen und vertraglich sauber zu gestalten.