Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: Beweiswert der Arbeits­unfähigkeits­bescheinigung nach dem BAG-Urteil vom 21.08.2024

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: BAG-Urteil 2024 zum Beweiswert von AU-Bescheinigungen verständlich erklärt – mit praxisnahen Tipps für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Rechtsanwalt Juri Klein, LL.M.

7/23/20253 min lesen

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Der „gelbe Schein“ gilt traditionell als starkes Beweismittel für die krankheits­bedingte Arbeits­unfähigkeit. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seiner Entscheidung 5 AZR 248/23 neue Leitplanken gesetzt, wann dieser Beweiswert wankt. Der Beitrag zeigt, wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer jetzt reagieren sollten – rechtssicher, praxisnah und suchmaschinen­optimiert.

1 | Gesetzlicher Ausgangspunkt

  • Anspruchsgrundlage: Sechs Wochen Entgeltfortzahlung bei krankheits­bedingter Arbeits­unfähigkeit (§3 Abs.1 EFZG).

  • Nachweispflicht: Arbeitnehmer müssen die Arbeits­unfähigkeit und deren Dauer dartun, regelmäßig durch ärztliche Bescheinigung (§5 Abs.1 S.2 EFZG).

  • Beweisrecht: Gerichte würdigen alle Umstände nach freier Überzeugung (§286 ZPO).

Der Attestbeweis genießt grundsätzlich hohes Gewicht. Wird er jedoch erschüttert, muss der Arbeitnehmer weitere Belege liefern – etwa detaillierte Arzt­auskünfte oder Zeugenaussagen.

2 | Das Urteil 5 AZR 248/23 auf einen Blick

Kernaussage: Fällt eine Krankschreibung zeitlich exakt in die (bekannte oder erwartete) Kündigungsfrist, ist das „auffallend und ungewöhnlich“ und erschüttert im Regelfall den Beweiswert der AU-Bescheinigung.

Kurz­chronologie des Falls

  • 04.05.2022: Arbeitnehmerin formuliert Eigenkündigung.

  • 05.05.2022: Erste Krankschreibung, anschließend vier Folge­atteste desselben Arztes.

  • 15.06.2022: Ende der Kündigungsfrist und gleichzeitiges Ende der bescheinigten Krankheit.

  • Arbeitgeber verweigert Entgeltfortzahlung – LAG weist Klage ab, BAG bestätigt.

Leitplanken aus Erfurt

  1. Zeitliche Koinzidenz genügt: Ob die Kündigung schon zuging oder mehrere Diagnosen vorliegen, spielt keine Rolle. Entscheidend ist das lückenlose Zusammentreffen von Kündigungsfrist und bescheinigter Krankheit.

  2. Lastenverteilung: Erschüttert der Arbeitgeber den Beweiswert, muss der Arbeitnehmer substantiiert nachlegen (z. B. Befundberichte).

  3. Prozessuale Fairness: Gerichte dürfen auf Formulierungen im Kündigungs­schreiben abstellen, ohne extra Hinweis an die Parteien – ein anwaltlicher Vertreter muss damit rechnen.

3 | Konkrete Folgen für Arbeitgeber

  • Indizien prüfen: Deckt das Attest exakt die Kündigungsfrist ab? Gleicher Arzt? Wiederholte „Kurz­krankheiten“?

  • Zweifel begründen: In kurzer, sachlicher Form schriftlich darlegen und Entgeltfortzahlung vorerst zurückbehalten.

  • Beweise sichern: Dienst­pläne, E-Mails, Zeugenaussagen möglicher Kollegen sammeln.

  • Kommunikation wahren: Keine Vorverurteilung; sachliches Anfordern ergänzender Nachweise schützt das Betriebs­klima.

4 | Handlungsempfehlungen für Arbeitnehmer

  • Transparenz: Frühzeitig mitteilen, falls Genesung vor Ende der Kündigungsfrist absehbar ist, und Tätigkeit (teilweise) anbieten.

  • Zusatz­nachweise: Bei möglichen Zweifeln Befund- bzw. Verlaufs­berichte bereithalten; den behandelnden Arzt auf eine etwaige Zeugenaussage vorbereiten.

  • Dokumentation: Eigenes Krankheits­tagebuch (Symptome, Therapien) führen – hilfreich vor Gericht.

  • Vermeidungstipp: Kündigung nicht „auf Vorrat“ datieren; tatsächlichen Übermittlungs­zeitpunkt transparent halten.

5 | Prozessuale Stolpersteine vermeiden

  • Darlegungs­last bleibt beim Arbeitnehmer; Arbeitgeber muss nur plausible Zweifel vortragen.

  • Zeugnis-Gefahr: Ärztliche Zeugenaussagen schließen Schweige­pflicht nicht automatisch aus – rechtzeitig Schweige­pflicht­entbindung einholen.

  • Verspätungs­risiko: Beweise erst in zweiter Instanz vorzulegen, kann nach § 531 ZPO problematisch werden.

6 | Praxistipps zur Streitvermeidung

  • Klare Arbeits­unfähigkeits­richtlinien im Betrieb (Meldewege, Nachweis­fristen, digitale Krankmeldung).

  • Offene Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden – insbesondere bei absehbarem Ausscheiden.

  • Betriebsarzt einschalten: Bei wiederkehrenden Zweifeln fachliche Einschätzung einholen (Datenschutz beachten!).

  • Schulungen: HR-Abteilung regelmäßig zu aktuellen BAG-Urteilen und Beweis­regeln briefen.

7 | FAQ – häufige Fragen kurz beantwortet

Wie kann ein Arbeitgeber den Beweiswert erschüttern?
Durch Tatsachen wie passgenaue Krankschreibung bis zum Ende der Kündigungsfrist, wechselnde Diagnosen bei gleichem Zeitraum oder widersprüchliches Verhalten des Arbeitnehmers.

Muss der Arbeitnehmer Diagnosen offenlegen?
Nein. Er kann sich aber entscheiden, im Prozess Befund­berichte vorzulegen, um die Zweifel zu entkräften. Ohne zusätzliche Nachweise droht sonst der Verlust der Entgeltfortzahlung.

Gibt es eine Pflicht zur Zustimmung zur betriebsärztlichen Untersuchung?
Nur, wenn der Arbeits- oder Tarifvertrag das ausdrücklich vorsieht oder besondere gesetzliche Regelungen greifen (z. B. für bestimmte Berufsgruppen).

Was passiert bei verspäteter Krankmeldung?
Der Arbeitgeber kann die Entgeltfortzahlung verweigern, bis der Nachweis nachgereicht wird (§5 Abs.1 EFZG).

Mit dieser Rechtsprechung verschiebt sich das Kräfte­verhältnis leicht zugunsten der Arbeitgeber. Wer die oben stehenden Empfehlungen beachtet, reduziert das Prozessrisiko.